Leseprobe Frausein 1975-1995

Ich persönlich vergleiche heute die Gesellschaft von 1978 bis 1985 mit einem Jugendlichen, der beginnt, seinen eigenen Weg zu gehen. Die starr vorgeschriebenen Regeln begannen sich aufzulösen. Aber noch wusste man nicht, in welche Richtung man gehen wollte. Deshalb gab es Frauen mit  gestrickten Strümpfen, die sämtliche Körperhaare an sich wuchern liessen, weil sie der Natur wieder näher kommen wollten. Es gab Frauen, die sich nur noch in Frauengruppen wohlfühlten, weil sie die ganze Unterdrückung der Frau durch den Mann auf ihren Schultern spürten. Es gab natürlich auch viele Frauen, die in sehr traditionellen Ehen lebten und dem Ehemann untertan waren. Es gab Jugendliche, die overdressed in die Disco gingen und es gab die Jugendlichen, die noch wie Hippies aussahen und bewusst lange Haare und einen Bart trugen. Es gab Männer, die im Beruf eine Karriere anstrebten und es gab Männer, die bewusst auf eine Karriere verzichten wollten und sich lieber viel Freizeit genehmigten. Kinder wurden entweder extrem antiautoritär erzogen oder dann sehr traditionell.

Natürlich gibt es all diese Gegensätze auch heute noch. Aber damals, als wir erst anfingen mit verschiedenen Möglichkeiten zu experimentieren, waren wir anderen Meinungen und anderen Ideen gegenüber ziemlich intolerant. Immer noch beobachteten und kritisierten sich die Menschen gegenseitig.  Man verband sich zu gleichdenkenden Gruppen und gewann so Sicherheit für den eingeschlagenen Weg. Ganz neu war zudem, dass jeder Mensch Stellung beziehen musste und mit seiner Kleidung und seinem Tun, die eigene Philosophie zeigten konnte. Denn Paris diktierte die Mode plötzlich nicht mehr, vielmehr galt es, mit dem Erscheinungsbild die persönliche politische Ansicht mitzuteilen.

Heute habe ich Kontakt mit Menschen, die ganz anders denken als ich und  finde dies sehr bereichernd. Damals war es jedoch so, dass man für die Zugehörigkeit einer Gruppe zwingend die gleichen Ideale haben musste.  Es war uns suspekt, wenn sich jemand nicht nach den Normen unserer Gruppe verhielt. Wohl wollten wir uns damals von den Normen unserer Eltern lösen, stellten jedoch augenblicklich neue Normen auf.

Obwohl ich mich sehr schnell für neue Bekanntschaften öffnete und mich gleichzeitig in der Dorfgemeinschaft beteiligte, wusste ich relativ lange nicht, zu welcher Gruppe ich hingehörte. Mein Mann und ich hatten eine ganz klare Aufgabenteilung. Er war für alles ausserhalb des Hauses zuständig, ich für alles, was innerhalb des Hauses geschah. Ich hatte freie Hand für das Einrichten, für den Garten, auch für Einladungen und soziale Kontakte und war absolut glücklich als Hausfrau. Ich hielt das Haus in Ordnung, kochte ausgiebig, nähte, strickte und bastelte, hatte aber auch die Finanzen der Familie unter mir. Mit dieser Lebensweise war ich vielen neuen Bekannten zu wenig emanzipiert. Vor allem am Schuhe putzen scheiterte ich bei einigen Gruppierungen. Dass ich als Frau ohne Murren gewillt war, meinem Mann die Schuhe zu putzen, fanden aufgeschlossene und emanzipierte Frauen schlicht daneben.

Tatsächlich hatte ich das Gefühl, dass viele Frauen in ihren schönen Nestern nicht nur von ihren Männern wollten,  dass sie genügend Geld heimbrachten, sondern auch, dass diese den Rasen mähten, die Kinder hüteten, sich in der Persönlichkeit weiterentwickelten, ihre Schuhe selbst putzten und vieles mehr. In diesem Sinne war ich keine Emanze, ertrug es jedoch schlecht, wenn wir ein Ehepaar einluden und die Frau kaum „Pips“ sagen durfte, weil sie sonst von ihrem Mann rigoros gebremst wurde. Er ihr zu verstehen gab, dass sie von diesen Themen nichts verstehen könne, weil sie eine Frau sei.  Ich fühlte mich meinem Mann ebenbürtig und verhielt mich in Diskussionen auch so, obwohl ich nicht ausser Haus arbeitete.

Der damals vehement geforderte Schwangerschaftsabbruch als solches interessierte mich ebenfalls nicht, weil ich versuchte, schwanger zu werden und dies erst nach 3 Jahren klappte. Noch heute kann ich mich an den Tag erinnern, als ich die Bestätigung des Frauenarztes erhielt. Auf Wolke sieben verliess ich die Praxis und lief zum Central, wo viele Leute ganz normal auf ihr Tram warteten und ich dachte: „Die können doch jetzt nicht einfach so normal auf ihr Tram warten, es ist ein ganz besonderer Moment, ich bin wieder schwanger“.

Bald wurde mir bewusst, dass ich hauptsächlich pro Kind war und in diesem Zusammenhang auch gute Lebensmittel wollte. Ich sah jedoch die Lösung des Problems nicht auf politischer Ebene, sondern fing zusammen mit meiner Freundin an, mich bei einem Biobauern mit Gemüse, Obst und Eiern einzudecken. Wir schauten der Bäuerin zu, wie sie ihre Schürze umband und im Hühnergarten nach Eiern suchte. Wir gingen in den Stall und unser Sohn durfte die Kühe füttern. Es gab auch Zeiten, wo wir selbst Äpfel pflückten oder auch Himbeeren. Es war mir wichtig, dass unsere Kinder wissen, woher das Essen kommt.

Mit diesem Vorgehen hätte ich zu den Grünen eingeteilt werden können. Dies war jedoch anfangs der 1980er Jahre eher ein Schimpfwort als eine Qualifikation.  Erst 1980 wurde die grüne Partei gegründet, die jedoch bei den Bürgerlichen verpönt war. Die Bürgerlichen waren entsetzt über die unsinnigen Forderungen der Grünen. Doch war ich nicht wirklich eine Grüne. Ich wollte wohl gesunde Nahrung für meine Familie haben und fand es gut, den Kindern zeigen zu können, wo das Essen herkommt. So lasen wir im Wald auch Holunderblüten und machten damit Holunderblütensirup. Wir lasen Lindenblüten und machten Tee damit. Wir gingen in die Erdbeeren und ich machte damit Erdbeerkonfitüre oder auch Glacé. Ich machte selbst Jogurts, hatte sogar eine Yoghurtmaschine. Von meiner Freundin lernte ich, wie man gutes Brot backen konnte oder auch Zopf. Natürlich gab es bei uns jedes Wochenende einen Kuchen, den wir ebenfalls selbst backten. Aber ich war nicht gegen den Autoverkehr und fand nicht, dass man die Autobahn durch das Säuliamt zwingend verhindern sollte.

Die neuen Lebens Überzeugungen waren Anfang der 1980er Jahre noch nicht genug verankert, als dass sie Alternativen zugelassen hätten. Entweder war man eine Emanze, zeigte dies mit sehr bequemen Schuhen und gestrickten Strümpfen und einer baldigen Scheidung oder man war keine Emanze. Entweder war man Grün und ass nicht nur Biogemüse, sondern verzichtete auch auf das Auto. Mehr noch, richtige Grüne kämpften gegen jeglichen Verkehr und die Erweiterung des Strassennetzes. Hatte man ein Auto war man nicht grün und scherte sich auch nicht um das Gift im Gemüse, weil dies so oder so nur Hirngespinste waren. Ohne diese Düngemittel liess sich nun mal zu wenig produzieren und niemand konnte beweisen, dass dies ungesund ist.

Oft gehörte zur neuen Gesinnung der Emanzipation  und Grünen auch eine antiautoritäre Erziehung. Die Kinder sollten vor allem glücklich sein, die Eltern ja keine Forderungen stellen. In der Schule sollten sich die Kinder frei entfalten können und ohne jeglichen Druck das Wichtigste für das Leben lernen. Ich wusste, dass bei unserem Sohn keine antiautoritäre Erziehung möglich war. Er suchte täglich nach Grenzen und gab nicht auf, bevor er alle Möglichkeiten ausgereizt hatte. Deshalb erforderte es immer wieder ein Machtwort.  So versuchte ich einen Mittelweg zwischen autoritärer und antiautoritärer Erziehung zu finden. Versuchte, die Anlagen der Kinder zu fördern, ihnen so viel Freiheit wie möglich zu geben und sie die Natur Elemente erfahren zu lassen. Deshalb gab es bei uns Fingerfarben, die auf die Füsse gestrichen wurden, um die grossen Papierrollen mit farbigen Füssen zu verzieren und auch Fensterfarben. Doch ganz klar gab es bei uns Grenzen. Ich war die Mutter, nicht die Freundin der Kinder. Um meinem Erziehungsstil, der weder zur autoritären noch zur antiautoritären Idee passte, mehr Gewicht und Sicherheit zu geben, besuchte ich wieder vermehrt Erziehungskurse an der Gessnerallee in Zürich, wo die Stadt Zürich mit allerlei Angeboten Erziehungshilfe bot.

Mit dem Club der jungen Mütter lernte ich Gleichgesinnte kennen. Zusammen mit dem Vorstand organisierten wir Anlässe für die Horizonterweiterung der Kinder und Eltern.  Nicht nur beeindruckte mich, dass die Leiterin ein Konzert mit Beatocello auf die Beine stellte, sondern auch ihr Kleidungsstil. Obwohl sie keine Emanze war, kleidete sie sich praktisch. Sie erklärte dies damit, dass diese Kostümchen, Blüschen und Pumps  im Alltag zu viel ausschlossen. Man konnte nicht schnell mit den Kindern in den Wald gehen und auch nicht auf den Spielplatz, weil die Kleidung geschont werden musste. Sie zog sich extrem praktisch an und das gefiel mir. Nach und nach erwog auch ich eine praktischere Garderobe, die besser zu Spielplätzen und Zoos passte.  Unsere Tochter trug ich bereits oft im Snuggli, das ich damals als brandneu empfand und dazu passten nun wirklich bequeme Hosen besser. Noch hätte ich jedoch zu dieser Zeit keine Jeans getragen.

Unser Sohn besuchte nun bereits eine Montesori Spielgruppe, die vom  Club der jungen Mütter organisiert wurde. Bald wurde jedoch dieser Name in Familienklub umgeändert, weil auch Väter in die Kinderwelt integriert werden sollten.  Immer mehr organisierten wir auch Anlässe für die ganze Familie. Es zeichnete sich auch ab, dass Schulkinder vor allem in den Ferien froh für Aktivitäten waren, weil gerade im Frühling damals noch wenige Familien in die Ferien verreisten. Mit sehr wenig Aufwand organisierte ich deshalb ein Lotto für daheim gebliebene Kinder. Dieses Lotto möchte ich deshalb erwähnen, weil ich über die Grosszügigkeit von verschiedenen Firmen so überrascht war, dass ich den Anlass später auch für die Eltern wiederholte. Ich schrieb verschiedene Firmen an und erklärte, dass wir den daheim gebliebenen Kindern eine Abwechslung bieten wollen und deshalb ein Lotto für sie organisieren. Dass wir dafür jedoch kein Geld aus der Vereinskasse nehmen wollen/können und froh um kleine Preise wären. Die gestifteten Preise waren dann jedoch alles andere als klein und einige Gaben haben wir noch für spätere Anlässe aufgespart, weil wir gar nicht alle Spenden an einem Nachmittag hätten bewältigen können. Der Lottonachmittag wurde von zahlreichen Kindern besucht und alle konnten mit einem Preis heimkehren. Deshalb organisierten wir für die Sommerferien noch einen Zooausflug  zum Greifensee und eine wunderschöne frühmorgendliche Wanderung mit einem Ornithologen.  Auch das Thema Umweltschutz wurde bei uns im Vorstand eingehend diskutiert und mir viel auf, dass wir in der ganzen Siedlung keinen einzigen Grüngutcontainer hatten und wir sämtliche Gemüse Abfälle in den Kehricht warfen. Deshalb schrieb ich dem Vorstand der  Siedlung einen Brief und machte einen Antrag für Grüngutcontainer. Dieser Antrag wurde – 1981 – abgelehnt. Die Begründung war, dass dies keinen Sinn mache, weil die Hausfrauen so oder so die Salat Abfälle samt Plastik in den Container werfen würden und man danach das Ganze nicht kompostieren könne. Die Männer entschieden, dass dies die Frauen nicht können. Dies akzeptierte ich ohne Murren. Es war einfach so. Die Männer entschieden und ich akzeptierte das, was entschieden wurde.  So war ich aufgewachsen und so fand ich es als natürlich und normal.

Im Gegensatz zu heute war in den 1980er Jahren überhaupt noch wenig reglementiert. Wohl gab es seit wenigen Jahren wegen des Umweltschutzes Kläranlagen und Kehrrichtverbrennungsanlagen. Aber viele Bereiche des Lebens waren noch nicht organisiert oder zumindest nicht von einer staatlichen Behörde. Dadurch gab es auch keine entsprechenden Stellenbeschriebe und schon gar keinen Zwang, irgendwelche Diplome oder Ausbildungsnachweise für bestimmte Arbeiten vorzeigen zu müssen. Als Beispiel stelle ich nun Fräulein Kuster vor, die zu dieser Zeit das ganze Pfarreileben zusammenhielt. Sie hatte praktisch keine Ausbildung. Als junge Frau kochte sie dem Herrn Pfarrer und machte ihm den Haushalt. Dann wurde er älter und übertrug ihr immer mehr Aufgaben. Mit der Zeit kam sie an die Türe, hörte sich an, was die Besucher wollten und erledigte diese Anliegen selbständig.  Was immer sie in die Hände nahm, klappte bestens. Sehr oft wurden auch Ehefrauen in das Thema des Mannes eingearbeitet. Hatte ein Mann in einer führenden Stellung irgendwo einen Engpass, dann kam die Ehefrau zum Zug, wurde in die Tätigkeit eingeführt und war dann auch angestellt. In der Sekundarschule hatte unser Sohn einen Lehrer, der seine Frau als Stellvertretung nahm, wenn er zwei, drei Tage weg war. Tatsächlich war ihr Unterricht durch ihren Mann gut vorbereitet gewesen und die Kinder mochten sie.

Noch in den späteren 1980er Jahren sah die Nachbarsgemeinde  keine Veranlassung, irgendetwas für Kinder zu organisieren oder anzubieten. Telefonierten Neuzuzüger der Gemeinde, um nach entsprechenden Angeboten nachzufragen, gaben sie meine Telefonnummer an und sagten. „Die Frau Raemy weiss Bescheid mit Kindern“.  Obwohl die Gemeinde froh war, durch den Familienklub Spielgruppen, Ferienpässe, Kleiderbörsen, Bastelnachmittage und vieles mehr anbieten zu können, wurden wir bei der Verwaltung nicht wirklich ernst genommen. Dies lag wahrscheinlich auch an unserem unterwürfigen Auftreten. Erst als wir zwei Männer im Vorstand hatten, gab man grösseren Unternehmungen eine Chance. Erst dadurch schien das Ganze Hand und Fuss zu haben.  Vorher waren diese Kinderanlässe einfach Frauenkram.

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